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Cyberpunk 2077 – RPG-Meilenstein mit bitterem Beigeschmack

Wäre Cyberpunk 2077 ein heißes Getränk, wäre es wohl die wohlig warme Tasse heiße Schokolade
am Ende eines kalten und nassen Tages, … der jedoch Zucker mit Salz verwechselt wurde.

Nach sieben Jahren ist das neue Spiel vom polnischen Top-Entwickler CD Project RED endlich da,
und die Gemüter laufen heiß wie nie zuvor. Liebe, Hass und Trauer in seinen extremsten Formen
dominieren die Diskussionen über dieses einfache Videospiel.

Also steigt ein, schnallt euch an, wir begeben uns nun auf eine Rundfahrt ins extreme Leben von
Night City und schauen uns ganz genau an, was das lang erwartete Rollenspiel denn nun wirklich
kann.

Zwischen PR-Chaos und Performance-Katastrophe

Um den Kopf für das eigentliche Review frei zu kriegen, soll zuerst der Elefant aus dem Raum
entfernt werden: die (teilweise) Unspielbarkeit auf Current-Gen Konsolen.

Das alles beherrschende Thema ist seit Release wohl die Vielzahl an Bugs und Performance
Problemen, die Entwickler CD Project RED nicht mehr geschafft hat aus dem Spiel zu patchen und
über die die Kunden zu allem Überfluss im Vorfeld nicht informiert wurden. Dies kann man nicht
schönreden und als Reviewer bleibt nur eins zu sagen. Finger weg von den PS4 und Xbox One
Versionen.

Dieses Spiel lässt sich wirklich nur auf einem guten PC oder maximal der PS5 und der Xbox Series X
spielen und dieses Review bezieht sich klar nur auf diese Versionen des Spiels. Und nun in die
eigentliche Materie!

Bombastische Atmospäre und überzeugende Zukunftsvision

Beginnen wollen wir mit dem gelungensten Feature, mit dem die Entwickler uns beglücken: Night
City selbst!
Die Abbildung einer Zukunft, die sich immer mehr entmenschlicht, nur noch Extreme kennt und in
der riesige Firmen alles (und jeden!) beherrschen und besitzen, funktioniert nur, wenn alle
Zahnräder glaubhaft ineinandergreifen.

CD Project RED hat dies verstanden und revolutionär umgesetzt. Einmal kurz die Stadtluft von
Night City geatmet, spürt man schnell den Sog, der von der extrem immersiven Spielwelt ausgeht.
Schuld daran sind mehrere kritische Entscheidungen, die das Studio getroffen hat.
Die First-Person-Sicht in Kombination mit immer schnellerem Stadtleben und Dutzenden von
Sinneseindrücken schaffen es wie kein Spiel zuvor den Spieler zu fesseln und geradezu dazu zu
zwingen, die triste Gegenwart zu vergessen.

Ganz im Sinne des revolutionären First-Person-Shooters „Half-Life 2“ von Valve hat der Spieler in
jeder Situation die Kontrolle. Cutscenes im klassischen Sinne existieren nicht, die Geschichte wird
in komplett freien Dialogen mit wunderschön gestalteten und geschriebenen Charakteren erzählt
und selbst Sexszenen werden in Egoperspektive erlebt.

So entsteht die perfekte Symbiose zwischen Charakter und Spieler, die nicht zuletzt durch das
Umfeld abgerundet wird:

• belebte Straßen voller Nichtspielercharaktere, die den Spieler im Vorbeigehen einfach
anquatschen, was oft nahtlos in tolle Nebenquests übergeht,
• echte Radio- und Fernsehsendungen, die man sich im Vorbeigehen anschauen kann,
• Liebe zum Detail im neonfarbenen Nachtleben von Night City und
• Datensplitter an jeder Ecke, die spannende Hintergrundinfos zu der Welt erzählen, in der
man sich befindet

Selten zuvor hat ein einfacher Spaziergang durch eine Videospielwelt so viel Spaß gemacht wie in
Cyberpunk 2077.

Cyberpunks oberflächlich offene Welt und seine wenig relevanten Entscheidungen

Doch natürlich hat dies auch Nachteile.
Die als Open World ausgelegte Stadt ist nämlich gar nicht so offen, wie man meint und wer ein
Ausmaß wie in der GTA-Reihe erwartet, wird sehr enttäuscht sein.

Orte besitzen tolle Details, aber oft keinen Zweck, Wohnungen sind nur selten begehbar und die
Belohnungen für Erkundungen abseits der Haupt- und Nebenmissionen sind außerhalb der tollen
optischen Eindrücke selten der Rede wert. Wenn überhaupt, springen ein paar Eurodollars und ein
wenig Beute heraus, die nur selten zu begeistern weiß.

Klar ist, Cyberpunk 2077 mag offen erscheinen, ist aber geschichtlich sehr linear. Die Welt dreht sich
nicht um V, den Spielercharakter, sondern um sich selbst. Ein Vergleich mit der Welt von Dark Souls
ist dadurch sehr viel nahe liegender, da es für die Welt keine Rolle spielt, ob wir als Spieler etwas in
ihr machen oder nicht. Unsere Geschichte ist bis auf wenige Ausnahmen immer gleich und das
realistische Erleben wird deutlich größer geschrieben als das Verändern dieser Geschichte.
Der Weg ist das Ziel, Entscheidungen zählen wenig…

Für viele mag genau dies schon ein hoher Grad an Realismus sein, und wenn man diesen Ansatz
mag, wird man viel Spaß haben. Wer Rollenspiele jedoch für ihren Variantenreichtum spielt, wird
schon bei den ersten Spielstunden enttäuscht.

Ob Nomad, Streetkid oder Corpo.
Egal welchen Werdegang man für sich wählt, einen Unterschied macht es nur in den allerersten
Missionen. Sobald diese drei Geschichten ineinanderfließen, merkt man abseits von nur selten
relevanten Dialogoptionen wenig von seiner anfänglichen Entscheidung in Cyberpunk 2077. Ähnlich spärliche
Optionen findet man in den Missionsdesigns, bei denen es vollkommen gleich ist, ob man
schleichend ans Ziel kommt, mit Bomben alles in die Luft jagt oder schlichtweg einfach an den viel
zu schwachen Gegnern vorbeiläuft.

Das verschwendete Potential toller RPG-Systeme

Und auch sonst wird Rollenspiel in Cyberpunk 2077 eher stiefmütterlich behandelt.

Der hoch angepriesene Charaktereditor zu Beginn erweist sich als wenig innovativ und besitzt noch
nicht einmal Schieberegler. Jede*r V sieht körperlich gleich aus; da macht auch die zwar für einige
sehr witzige, aber spielerisch vollkommen irrelevante „Geschlechtsteil“-Einstellung den Braten
nicht fett. Eine nachträgliche Anpassung oder Änderung? In einer Welt, in der man Implantate
öfter wechselt als die Unterwäsche offenbar nicht möglich.

Die Kleidung im Spiel kommt da deutlich besser weg. Die Designs sind vielfältig und das ständige
Wechseln macht dank Fotomodus sogar bei einem First-Person-Spiel Spaß. Schade ist da nur, dass
man für das angenehmste Spielgefühl immer die Dinge tragen sollte, die den höchsten
Rüstungswert haben. Dadurch bleibt oft wenig vom individuellen Charakter über, mit dem man
sich ja eigentlich identifizieren sollte.

 

Das mitunter sehr gute Crafting System könnte da Abhilfe schaffen, doch sind die dafür nötigen
Handwerksmuster selten, teuer und dann noch schwer herzustellen. Dadurch, dass man den Loot
nur so hinterher geschmissen bekommt, wird ein tolles System leider obsolet. Ähnlich sieht es bei
den sehr guten Skilltrees aus, die eine sehr individuelle Entwicklung ganz nach eigenem Lieblings-
Spielstil unterstützen. Ganze Bäume an Fähigkeiten gibt es für Hobby-Hacker, Freizeit-Ninjas und
Shotgun-Proleten. Doch sind diese Skills erst bei sehr hohem Schwierigkeitsgrad wirklich
notwendig.

Es wummst in Night City

Positiv fällt da schon eher die Praxis auf.
Die auf dem Papier grandiosen, aber im aktuellen Zustand des Spiels leider fast schon
verschwendeten Skill- und Crafting-Elemente sind zum Glück schnell vergessen, wenn man endlich
ans Spielen kommt.

 

Das Abfeuern von Schusswaffen war selten knackiger, die Autos, Motorräder und Vans, die man
fährt, haben eine Masse, die man sogar mit Tastatursteuerung noch spürt und zumindest mit
Hacking-, Nahkampf- und Elementangriffen hat man ein realistisches Trefferfeedback.
Man merkt also jederzeit – und das ist wieder der fantastischen Atmosphäre zuzuschreiben –
welchen Schaden man anrichtet. Inneneinrichtung zerbirst im Eifer des Gefechts und Extremitäten
wie auch Köpfe fliegen bei rabiater Vorgehensweise nur so durch die Gegend.

Eingerahmt wird das Spielerlebnis von einem Soundtrack, der wirklich für jeden etwas bereithält.
Vom Metalcore über Hip-Hop bis zum Free Jazz ist in Nachtclubs und Radios alles dabei und auch
die für das Spiel erstellte Soundkulisse weiß mit ihrem detaillierten Tech-Mix mehr als nur zu
überzeugen.

Fazit

Sieben Jahre Entwicklung, ein gigantischer Hype auf das Rollenspiel-Meisterwerk nach Witcher 3.
Ist Cyberpunk 2077 am Ende die Katastrophe, die sie zu sein scheint?
Ganz klar: Nein!

Doch es ist auch nicht der heilige Gral, den viele Gamer gerne gehabt hätten.
Cyberpunk 2077 ist unterm Strich ein hervorragendes, aber story-fokussiertes Rollenspiel, das jeder
gespielt haben sollte, der nur ansatzweise etwas mit dem Genre anfangen kann. Das Spiel erzählt
seine Geschichte so immersiv und überzeugend wie kaum ein Spiel zuvor, doch ist es darüber
hinaus „nur“ guter Durchschnitt.

Kann man die technischen Probleme verhindern oder tolerieren, bekommt man 30 bis 80 Stunden
extrem atmosphärische Unterhaltung geboten, die allerdings nicht an den geistigen Vorgänger
„The Witcher 3: Wild Hunt“ herankommt.

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